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Von letzten Malen und offenen Türen - Abschied von 0 auf 100

  • Autorenbild: Jana Schmitt
    Jana Schmitt
  • 19. März 2020
  • 5 Min. Lesezeit

18. März 2020, Istanbul Airport: Von hier aus schreibe ich gerade, während wir auf unseren Anschlussflug nach München warten. Einer der letzten nach Deutschland. Wenn man sich die Anzeigetafel so anschaut, hatten wir wohl Glück (oder Pech, je nach dem), denn zwischen all den „cancelled“ finden aktuell nur noch wenige Flüge statt. Alles ist gerade so surreal und im Moment noch nicht wirklich greifbar für mich. Die letzten Tage – vor allem die letzten 48 Stunden - ein einziges Chaos:



Samstag, 14.03.2020: Auch hier spitzt sich die Lage zu. Im Senegal gibt es bis dato 26 Fälle – nicht vergleichbar mit Europa, aber auch hier berichten die Medien ununterbrochen. Die Menschen sehen die Situation in Frankreich, Italien und anderen Ländern im Fernsehen, die gerade alles andere als rosig ist. Die Witze über Corona werden langsam weniger, denn den Ernst der Lage versteht man angesichts der Todesopfer zunehmend. Von Vielen hört man die optimistische Aussage, „das Virus könne bei der afrikanischen Hitze sowieso nicht überleben“. Wie fundiert das aus medizinischer Sicht ist, kann ich nicht sagen. Andere sagen, es müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden. Gegen Mittag eröffnet der senegalesische Präsident Macky Sall mit seinen Ministern eine Notfallkonferenz um sich über das weitere Vorgehen in der Corona-Krise zu beraten. Annegret und ich sind noch wenig besorgt, wobei auch wir uns Gedanken machen, ob es wohl in absehbarer Zeit zu einer Schulschließung oder anderen Maßnahmen kommen könnte, die uns in unserer Arbeit und unserem alltäglichen Leben hier einschränken. Am Nachmittag berichten dann die senegalesischen Medien: Schulen, Kindergärten und Universitäten werden ab Montag bis auf weiteres für 3 Wochen geschlossen. Religiöse Feste und Versammlungen, sowie die landesweiten Paraden zum Unabhängigkeitstag am 4. April sind annulliert. So schnell hatten wir dann doch nicht damit gerechnet.


Montag, 16. März 2020: Ich mache mich früh morgens mit einer deutschen Bekannten aus Thies auf den Weg nach Dakar zur deutschen Botschaft. Arbeiten muss ich ja vorerst nicht mehr. Im Auto erreicht mich dann ein Anruf aus Deutschland. Die Verantwortliche unserer Organisation ist am Telefon. Wir sollen uns überlegen, ob wir nicht nach Hause fliegen wollen, sagt sie. In Bolivien und Peru seien die Grenzen geschlossen worden und die Ausreise vorerst nicht mehr möglich. Man habe nun Angst vor einem Ein- und Ausreisestopp und einer anschließenden Zuspitzung der Lage im Senegal und den anderen weltwärts-Einsatzländern. Ich telefoniere mit Annegret, die zuhause in Thies ist. Wir sind beide sehr überrumpelt von dieser plötzlichen Entwicklung und auch etwas ratlos. Das Virus ist für uns in jedem Fall recht ungefährlich. Vielmehr müssen wir uns über die Situation im Land bei einem Ausbruch des Virus Gedanken machen. Was würde das für unseren Alltag bedeuten? Ein Kollaps des Sozialsystems, wenn Behörden und Gesundheitssystem nicht mehr funktionieren? Quarantäne im Senegal oder in Deutschland macht ja aber eigentlich nicht wirklich einen Unterschied. Noch 6 Monate sind wir planmäßig im Senegal. Irgendwann demnächst werden die Schulen schon wieder aufmachen, denken wir. Das ist nur eine Phase. Wir kommen zu der Entscheidung zu bleiben. Auf dem Rückweg von Dakar dann wieder ein Anruf. Was dann kommt, überfordert mich zuerst total: Wir müssen nach Deutschland zurück, sofort. Wahrscheinlich gleich morgen, denn Flugzeuge werden wohl nicht mehr allzu lange fliegen. Das BMZ hat die dringende Empfehlung gegeben, alle weltwärts-Freiwillige überall auf der Welt zurückzuholen. Wir sind in einer völligen Ohnmacht. Mit dem Eintreffen der Nachricht bleiben uns gerade einmal ein bisschen mehr als 24 Stunden um von unserer Familie, unseren Freunde und unserem Leben, das wir uns in den letzten sechs Monaten in Thies aufgebaut haben, Abschied zu nehmen und unsere Koffer zu packen. Am Abend sprechen wir mit unserer Gastfamilie und berichten ihnen von dem Entschluss der Organisation. Für mich der mit Abstand emotionalste Moment. Wir können alles noch gar nicht so recht glauben, dafür ist die Nachricht und vor allem die Schnelligkeit der Ereignisse viel zu surreal. Also machen wir uns daran, unsere Koffer zu packen. Viel mehr bleibt uns nicht übrig.


Dienstag, 17.03.2020: Wir erleben gerade so viele „letzte Male“. Die letzte Nacht in unserem Bett unter dem Moskitonetz, das letzte Frühstück mit „Luftbrot“ und chocopain, das letzte Mal „yassa“ zu Mittag, das letzte Mal Taxifahren, das letzte Mal auf den Markt. Ich versuche alles noch einmal ganz bewusst wahrzunehmen und aufzusaugen. Bei vielen Dingen ist das gar nicht mehr möglich. Viele dieser letzten Male sind verstrichen, ohne dass wir sie als solche wahrgenommen haben. Das letzte Mal vor meinen Klassen stehen, das letzte Mal Chorprobe, das letzte Mal feiern gehen mit Freunden, das letzte Mal am Strand, das letzte Mal mit unseren Geastgeschwister, die in Dakar leben. Wir hatten noch so viel vor, unsere „Senegal-Bucket-List“ war längst noch nicht abgearbeitet. Und trotzdem fliegen wir in weniger als 10 Stunden nach Deutschland zurück. Wir beginnen den Tag damit, uns von Freunden und Familie zu verabschieden und all unsere Sachen zu verteilen, die keinen Platz mehr im Koffer haben. Danach hetzen wir zum Markt. Kaufen mehr oder weniger ziellos Dinge und Mitbringsel, die wir eigentlich mit Bedacht wählen wollten. Ein letztes Mal gehen wir an der Kathedrale vorbei, die geschlossen ist. Messen werden wohl in Zukunft auch ausfallen. Zuhause angekommen, werden die letzten Dinge im Koffer verstaut. Wir korrespondieren mit Deutschland und unserer Entsendeorganisation. Es gibt Probleme mit den Flügen und wir sind nicht mehr sicher, ob es noch möglich ist, wie geplant über Istanbul nach Nürnberg auszureisen. Im Minutentakt gibt es neue Infos, unser Flug nach Nürnberg wird gecancelled, wir finden einen Anschlussflug nach München. Es ist bereits 16 Uhr und unsere Freunde stehen vor der Tür für die wohl spontanste Abschiedsparty der Geschichte. Wir haben nach zahlreichen Versuchen, über die Airline und das Reisebüro Informationen zum Flugstatus zu bekommen, endlich Glück und bekommen das OK für die Abreise. Um 17.30 Uhr nehmen wir dann Abschied. Alles geht viel zu schnell, wo unsere Gäste doch gerade erst gekommen sind. Ich weiß in dem Moment nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ich bin irgendwie erleichtert als wir im Auto sind, losfahren und ich endlich kurz durchatmen kann. Am Flughafen dann der letzte Abschied von Marcelline, Ferdinand und Abbé Ousario. Im habe immer noch die Bilder unserer Ankunft im Kopf. Und jetzt stehen wir hier, sagen tschüss und versichern, dass wir so bald wie möglich wieder kommen werden. All das ein halbes Jahr zu früh. All das innerhalb eines Tages. All das dank Corona. Wer hätte damit noch vor ein paar Wochen gerechnet?











Life is unfair. Wir hatten eine wunderschöne (zu kurze) Zeit in Thies. Vielleicht war alles einfach ZU perfekt, vielleicht hatten wir ZU viel Glück. Ich glaube daran, dass all das aus einem Grund passiert. Die Rückkehr nach Deutschland – besonders diese Art von Rückkehr – wird sicherlich sehr hart und alles andere als einfach. Aber es wird sicher nicht bei dieser einen Reise in den Senegal bleiben. Wir kommen zurück, sobald es Corona zulässt. Und wir wissen mit Sicherheit, dass wir immer auf offene Türen stoßen werden.





Sama xol nexul. Sénégal tu vas me manquer. Dina bax. Ba bene yone!


Update: Wir sind tatsächlich zuhause angekommen. Der Flug nach München hat reibungslos geklappt. Ironischerweise hat uns dann die Deutsche Bahn aufgehalten: Wegen Signalproblemem steckten wir mit dem ICE auf der Strecke zwischen München und Nürnberg fest und verpassten unseren Anschlusszug. Aber alles halb so schlim. Wir sind da!




Deutschland ist so anders. Ich bin überfordert. Wo ist der Sand, die Wärme und die schwarzen Menschen?? Stattdessen saßen wir fierend im ICE mit dem Blick auf betonierte Straßen und graue Fassaden, nirgendwo herumliegender Müll. Bei schwarzen Menschen schließt mir sofort der Gedanke in den Kopf: Ist er/ sie vielleicht Senegalese/in? Natürlich völlig unrealistisch und auch etwas rassistisch, aber alles in mir sehnt sich nach Thies und dem Senegal. Ich bin gerade aufgewacht in meinem eigenen Bett. Das erste was ich wahrgenommen habe: Nichts. Einfach Stille. Kein Muezzin, keine spielenden Kinder auf der Straße, kein exotisches Vogelgezwitscher. Mit meinem Kopf bin ich noch nicht so richtig hier angekomme. Das wird wohl auch noch ein paar Tage dauern...

Bis dahin: Hallo Deutschland! Hallo Quarantäne!

 
 
 

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